Samstag, 22. Juni 2013

SOMMER

Der Sommer hat – wie auch in Deutschland – auf sich warten lassen; doch nun ist er angekommen und zwar in voller Gänze. London konnte sich die Woche über an blauem Himmel und Sonne satt sehen und auch ich genieße meine frei Zeit auf der Dachterrasse mit Sicht auf unseren blühend wuchernden Garten. Auch der Rundbrief wird von dem Geruch der Sonnencreme in meiner Nase beeinflusst werden.
Doch auch wenn die Zeit eine lange Zeit unbewegt und im Winter zu verweilen schien, gab es zumindest in unserem Haus große Veränderungen. Es ist zu verkünden, dass nur noch zwei kleine Familien in unserem Haus leben. Somit sind es insgesamt schon vier Familien, mit denen ich in den letzten Monaten in Gemeinschaft zusammengelebt habe, die in ein neues Abenteuer aufgebrochen sind – so wie auch ich bald in ein neues Abenteuer aufbrechen werde.
Momentan ist die Zeit, denke ich, gerade durch eben die Gewissheit des Aufbruchs geprägt. Ich genieße jeden Moment, weil ich mir seiner Vergänglichkeit bewusst bin. Ich genieße jeden Moment, weil ich dann weiterziehen werde, wenn es am Schönsten ist.

London ist mein Zuhause geworden. Letztlich muss ich zugeben, dass ich mich doch ganz schön verliebt habe in die immer brennende Flamme London. Insbesondere die letzten Wochen haben mich überzeugt.
Zum einen ist es die Stadt, die man besser und mit all ihren Nuancen kennenlernt.
Letzte Woche führte mich meine Neugier beispielsweise durch das Kanalsystem Londons. Zwar hatte ich gewusst, dass der Kanal existiert, aber nie hatte ich mit der Größe und Schönheit gerechnet, die mich erwartete. Insbesondere die Ruhe empfindet man im überfüllten London als angenehm und so lasse ich nun beim wöchentlichen Joggen am Kanal die Seele baumeln.
Auch einen Hügel habe ich letztendlich in London finden können. Wer sich nun fragt, warum ich einen Hügel gesucht habe, der sollte wissen, dass meine Wurzeln ihr Wasser aus der Wupper ziehen. Und Wuppertaler vermissen nun einmal das bergige, Bergische Land. Wie ich schon sagte, wurde meine Sehnsucht jetzt aber durch den primrose hill befriedigt, der eine wunderschöne Aussicht auf London bietet, und jedes (zumindest Wuppertaler) Herz höher schlagen lässt.

Hauptsächlich liegt es aber natürlich an den Menschen in meinem Umfeld, die mein Herz höher schlagen lassen. Beispielsweise bemerke ich in letzter Zeit immer wieder wie eng meine Beziehung zu meinen Klienten geworden ist. Jede Beziehung ist einzigartig, doch haben sie alle eins gemein; hatte ich anfangs Energie aufwenden müssen, um die Treffen lebendig werden zu lassen, so ist es jetzt die Freude Zeit miteinander verbringen zu dürfen.
Mittlerweile ist man ein eingespieltes Team;
wie schon in meinem ersten Rundbrief berichtet, besuche ich die 98 jährige Emma – wie schon in meinem ersten Rundbrief berichtet, mag sie Whiskey.
Und so ist es schon Tradition, dass wir nach den ausgiebigen Einkäufen, gemeinsam zu Mittag essen und ich ihr danach eine großzügige Portion Whiskey einschenke.
Insbesondere der Umzug in ein Altenheim hat unsere Beziehung intensiviert. Es war kein einfacher Schritt in ein anderes Umfeld zu ziehen, aber umso mehr ist das Aufrechterhalten unserer Traditionen ein wichtiger Schritt ihr neues Zuhause als solches zu akzeptieren.
Manch eine Beziehung wurde jedoch jäh unterbrochen, so sind während meines Jahres drei Klienten verstorben. Insbesondere der Tod einer kürzlichen verstorbenen Klientin hatte mich mitgenommen. Immer wenn ich sie besuchte hatte, war das erste Geräusch die Beatmungsmaschine, die sie am Leben hielt, und das Zweite ihre zaghafte Stimme, die mich begrüßte. Unsere Treffen hatten sich nicht durch Gespräche ausgezeichnet, vielmehr hatte ich – meist nur eine kurze Zeit, weil sie mich aufgrund ihrer eigenen Kraftlosigkeit oft nur eine Stunde sehen konnte – nur neben ihr gesessen. Am Ende jedoch hatte sie mir in ihrem Abschiedskuss so viel Dankbarkeit geschenkt, als hätte ich mein Leben lang an ihrem Bett gesessen und ihr Kraft geschenkt. Nun bin ich es, der dankbar ist, eine wundervolle Person wie sie gekannt zu haben.

Dankbar bin ich auch für die Freundschaften, die ich in London schließen konnte.
Und wenn ich in die Heimat zurückkehre, dann mit der Gewissheit, dass ich eine Heimat zurücklasse.

Liebste Grüße also aus der Heimat an die Heimat,

Euer Jens Vorsteher